Kissinger, ich und die Lügen des Herrn

Seymour Hersh     —    06.12.2023

Original Artikel: Kissinger, Me, And The Lies of The Master
Übersetzung: 05.04.2024
"In­of­fi­zi­ell" mit dem Mann, der heim­lich un­se­re Te­le­fon­ge­sprä­che ab­ge­hört hat
Hen­ry Kis­sin­ger, da­mals na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter, im Si­tua­ti­on Room im Un­ter­ge­schoss des West­flü­gels des Wei­ßen Hau­ses im Jahr 1969. / Fo­to von Wal­ly McNa­mee/Cor­bis via Get­ty Images.

Ich ver­ließ die New York Ti­mes 1979, nach vie­len gu­ten und ei­ni­gen we­ni­ger gu­ten Ge­schich­ten, um ein Buch zu schrei­ben, Der Preis der Macht, über Hen­ry Kis­sin­ger und sei­ne Jah­re als ma­ni­pu­lie­ren­der und ver­lo­ge­ner na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter und Au­ßen­mi­nis­ter.

Ich ha­be nicht we­ni­ger als tau­send Be­am­te be­fragt, dar­un­ter vie­le, die für Hen­ry, der al­len be­kannt war, ge­ar­bei­tet hat­ten. Das 698 Sei­ten star­ke Buch wur­de 1983 ver­öf­fent­licht. Es war ein Ver­kaufs- und Wer­beer­folg und führ­te zu ei­nem Jahr voll von Vor­trä­gen an Col­le­ges und Uni­ver­si­tä­ten in ganz Ame­ri­ka. Doch das Buch trug we­nig da­zu bei, die in­ten­si­ve Lie­be der Main­stream-Pres­se zu Hen­ry zu schmä­lern.

Die Nach­ru­fe, die auf sei­nen Tod letz­te Wo­che folg­ten, wa­ren eben­so krie­che­risch wie die Be­richt­er­stat­tung, als er sich wäh­rend sei­ner Amts­zeit durch Lü­gen und Ma­ni­pu­la­tio­nen einen Na­men mach­te. Tat­sa­che ist, dass sei­ne Rol­le bei der Ent­wöh­nung Russ­lands und Chinas von ih­rer Un­ter­stüt­zung Nord­vi­et­nams auf dem Hö­he­punkt die­ses schreck­li­chen Krie­ges oft über­be­wer­tet wur­de. Er war ein Ver­mitt­ler der di­plo­ma­ti­schen Rea­li­tä­ten, die ur­sprüng­lich von Prä­si­dent Ri­chard Ni­xon ver­kün­det wur­den, des­sen öf­fent­li­che Un­be­hol­fen­heit ei­ne klu­ge Ein­sicht in die Be­reit­schaft von Groß­mäch­ten ver­barg, selbst die engs­ten Ver­bün­de­ten zu ver­ra­ten. (Ver­ges­sen Sie mei­nen Wäl­zer, wenn Sie tiefe­re Ein­bli­cke in die töd­lichs­ten In­tri­gen von Ni­xon und Kis­sin­ger ha­ben wol­len: 2013 ver­öf­fent­lich­te Ga­ry Bass, Pro­fes­sor in Prin­ce­ton und ehe­ma­li­ger Re­por­ter für den Eco­no­mist, The Blood Te­le­gram, einen kon­zen­trier­ten Be­richt über den Mas­sen­mord, den Ni­xon und Kis­sin­ger 1971 im da­ma­li­gen Ost­pa­kis­tan un­ver­meid­lich mach­ten, oh­ne dass die in­ter­na­tio­na­len Me­di­en dies auch nur im Ge­rings­ten zur Kennt­nis nah­men).

Mein Tanz mit Kis­sin­ger be­gann erst An­fang 1972, als ich von Abe Ro­sen­thal, dem Chef­re­dak­teur der Ti­mes, ge­be­ten wur­de, in die Re­dak­ti­on der Zei­tung in Wa­shing­ton ein­zu­tre­ten und als in­ves­ti­ga­ti­ver Re­por­ter über den Vi­et­nam­krieg zu schrei­ben, was ich woll­te - un­ter der Be­din­gung, dass ich mir im­mer ver­dammt si­cher sein soll­te, dass ich Recht hat­te. Bis da­hin hat­te ich vie­le Prei­se ge­won­nen, dar­un­ter den Pu­lit­zer-Preis für mei­ne Re­por­ta­ge über das Massa­ker von My Lai in Vi­et­nam, und zwei Bü­cher ver­öf­fent­licht, was mir einen Job am bes­ten Ort der Welt für einen Schrift­stel­ler ein­brach­te: als Re­por­ter für den New Yor­ker. Doch Ro­sent­hals An­ge­bot und mein Hass auf den Krieg ver­an­lass­ten mich, die Zeit­schrift zu ver­las­sen und mich der täg­li­chen Hek­tik ei­ner Zei­tung zu­zu­wen­den.

Als ich im Früh­jahr 1972 in das Wa­shing­to­ner Bü­ro kam, saß ich an mei­nem Schreib­tisch di­rekt ge­gen­über dem wich­tigs­ten au­ßen­po­li­ti­schen Re­por­ter der Zei­tung, ei­nem er­fah­re­nen Jour­na­lis­ten, der es meis­ter­haft ver­stand, kurz vor Re­dak­ti­ons­schluss ko­hä­ren­te Ge­schich­ten für die Ti­tel­sei­te zu schrei­ben. Ich er­fuhr, dass an Ta­gen, an de­nen es Ge­schich­ten über den Krieg oder die Ab­rüs­tung - Kis­sin­gers Spe­zi­al­ge­biet - zu schrei­ben gab, die Se­kre­tä­rin des Bü­ro­lei­ters mei­nem Kol­le­gen ge­gen 17 Uhr mit­teil­te, dass "Hen­ry" mit dem Bü­ro­lei­ter te­le­fo­nier­te und ihn bald an­ru­fen wür­de. Na­tür­lich kam der An­ruf, und mein Kol­le­ge mach­te sich hek­tisch No­ti­zen, um dann einen zu­sam­men­hän­gen­den Ar­ti­kel zu ver­fas­sen, der das wi­der­spie­gel­te, was ihm ge­sagt wor­den war, und der un­wei­ger­lich der Auf­ma­cher der Zei­tung am nächs­ten Mor­gen sein wür­de. Nach­dem ich dies ein oder zwei Wo­chen lang be­ob­ach­tet hat­te, frag­te ich den Re­por­ter, ob er je­mals nach­ge­prüft ha­be, was Kis­sin­ger ihm sag­te - wie sich her­aus­stell­te, wur­de Kis­sin­ger in den Be­rich­ten nie na­ment­lich er­wähnt, son­dern es wur­den hoch­ran­gi­ge Be­am­te der Ni­xon-Ad­mi­nis­tra­ti­on zi­tiert -, in­dem er Wil­liam Ro­gers, den Au­ßen­mi­nis­ter, oder Mel­vin Laird, den Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter, an­rief und mit ih­nen über die Hin­ter­grün­de sprach.

"Na­tür­lich nicht", sag­te mein Kol­le­ge. "Wenn ich das tä­te, wür­de Hen­ry nicht mehr mit uns zu­sam­men­ar­bei­ten."

Bit­te ver­ste­hen Sie — ich den­ke mir das nicht aus.

Kis­sin­ger, der sich öf­fent­lich nicht zu mei­nen Schrif­ten über das Massa­ker von My Lai und des­sen Ver­tu­schung ge­äu­ßert hat­te, lud mich plötz­lich zu ei­nem pri­va­ten Ge­spräch ins Wei­ße Haus ein. Ich war ge­ra­de von ei­ner Re­por­ta­ge­rei­se nach Nord­vi­et­nam für die Ti­mes zu­rück­ge­kehrt - ich war der zwei­te ame­ri­ka­ni­sche Re­por­ter in­ner­halb von sechs Jah­ren, der von Ha­noi ein Vi­sum er­hal­ten hat­te - und wir soll­ten dar­über spre­chen. Ich hat­te über Nord­vi­et­nams Stand­punkt zu den ge­hei­men Frie­dens­ge­sprä­chen ge­schrie­ben, die Kis­sin­ger mit den Vi­et­na­me­sen in Pa­ris führ­te, aber das war nicht das The­ma. Er woll­te, so schloss ich dar­aus, mich lieb­ko­sen. Es stand au­ßer Fra­ge, dass ich als völ­lig un­be­re­chen­ba­re Per­son, die plötz­lich bei der Ti­mes ein­ge­stellt wur­de, von be­son­de­rem In­ter­es­se war.

Er frag­te mich nach mei­nen Ein­drücken von den Nord­vi­et­na­me­sen, die ich bei ei­nem drei­wö­chi­gen Be­such in Ha­noi und an­ders­wo im Nor­den ge­won­nen hat­te. Ich wur­de in Ge­bie­te ge­bracht, die un­ter schwe­ren ame­ri­ka­ni­schen Bom­ben­an­grif­fen stan­den, und wur­de Zeu­ge der er­staun­li­chen Fä­hig­keit des Nor­dens, zer­bomb­te Ei­sen­bahn­li­ni­en in­ner­halb we­ni­ger Stun­den nach ei­nem An­griff wie­der in­stand zu set­zen. Ent­lang der Stre­cke von Ha­noi zum Haupt­ha­fen in Hai­phong wa­ren al­le paar hun­dert Me­ter zu­sätz­li­che Schie­nen und die für Re­pa­ra­tu­ren er­for­der­li­che Aus­rüs­tung ver­steckt.

Er er­kun­dig­te sich nach der Mo­ral der Ein­woh­ner von Ha­noi. Ich sag­te ihm, dass ich bei mei­nen vie­len un­be­wach­ten (so glaub­te ich) Spa­zier­gän­gen durch die Stadt kei­ne An­zei­chen von Pa­nik, Angst oder Ver­zweif­lung ge­se­hen hät­te. Je­den Mor­gen kam ei­ne Grup­pe von Schü­lern auf dem Weg zum Un­ter­richt, die mich bei mei­ner An­kunft ge­se­hen hat­ten, um die glei­che Uhr­zeit an mei­nem Ho­tel im Zen­trum von Ha­noi vor­bei - ich war im­mer drau­ßen - und sag­te fröh­lich auf Eng­lisch "Gu­ten Mor­gen, Sir" zu mir. Aber ich war mir im­mer be­wusst, dass ich mich in feind­li­chem Ge­biet be­fand.

Die Schul­jun­gen und an­de­re An­ek­do­ten ver­an­lass­ten Kis­sin­ger, einen pro­mi­nen­ten ehe­ma­li­gen Bot­schaf­ter, der sein rang­höchs­ter Be­ra­ter in Kriegs­an­ge­le­gen­hei­ten war, zu sich zu ru­fen und ihm vor mei­nen Au­gen in of­fen­ticht­lich ge­spiel­tem Zorn zu sa­gen: "Die­ser Bur­sche gibt mir mehr In­for­ma­tio­nen über die Mo­ral im Nor­den, als ich von der CIA er­hal­te". Ich er­in­ne­re mich, dass ich dach­te: "Ist es das? Ist das al­les, was er hat? Glaubt der Kerl wirk­lich, dass er mich mit die­ser Art von of­fen­sicht­li­cher Schmei­che­lei ge­win­nen kann?"

In den nächs­ten Jah­ren nahm Kis­sin­ger wei­ter­hin mei­ne An­ru­fe ent­ge­gen, un­ter der Be­din­gung, dass al­le un­se­re Ge­sprä­che, wie er ein­mal sag­te, "in­of­fi­zi­ell" sein muss­ten. Ich durf­te ihn nicht na­ment­lich zi­tie­ren und er­fuhr erst Jah­re spä­ter, dass ich bei un­se­ren Te­le­fona­ten der ein­zi­ge war, der sich an die Re­geln hielt. Ein Wis­sen­schaft­ler, der über Kis­sin­ger forsch­te, er­zähl­te mir, dass mei­ne an­geb­lich pri­va­ten Ge­sprä­che mit dem Mann in­ner­halb von Stun­den tran­skri­biert wur­den - er hat­te Ko­pi­en durch das Ge­setz über die In­for­ma­ti­ons­frei­heit er­hal­ten - und Kis­sin­ger oder sei­nem lang­jäh­ri­gen Be­ra­ter, Ar­mee­ge­ne­ral Alex­an­der Haig, zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­den.

Trotz mei­ner hef­ti­gen Ein­wän­de wur­de ich En­de 1972 von Ro­sen­thal aus dem Vi­et­nam-Re­fe­rat ab­ge­zo­gen, als der Wa­ter­ga­te-Skan­dal aus­brach und die Ti­mes durch die Be­rich­te von Bob Wood­ward und Carl Bern­stein von der Wa­shing­ton Postun­ter Druck ge­riet. Wie­der ein­mal muss­te ich über Kis­sin­ger be­rich­ten, des­sen Be­reit­schaft, al­les zu tun, um in Ni­x­ons Gunst zu ste­hen, kei­ne Gren­zen kann­te.

Im Früh­jahr 1973 lud mich ein kurz vor der Pen­sio­nie­rung ste­hen­der hoch­ran­gi­ger FBI-Be­am­ter, der mei­ne of­fen­sicht­li­che Ab­nei­gung ge­gen Kis­sin­ger teil­te, zum Mit­tages­sen in ein Lo­kal in der Nä­he des FBI-Haupt­quar­tiers ein, das ein Treff­punkt für hoch­ran­gi­ge FBI-Ver­tre­ter war. Es war ei­ne wirk­lich er­staun­li­che Ein­la­dung, aber es wa­ren Ta­ge, in de­nen es nichts an­de­res gab als sol­che Mo­men­te, als die Ni­xon-Re­gie­rung sich auf­lös­te, und so ging ich al­so hin. Wir un­ter­hiel­ten uns an­ge­regt über die Tücken Wa­shing­tons, und als das Es­sen zu En­de war, bat er mich, einen Mo­ment in­ne­zu­hal­ten, be­vor er das Re­stau­rant ver­ließ: Ich wür­de ein Päck­chen auf sei­nem Stuhl fin­den.

Er ent­hielt sech­zehn streng ge­hei­me Ab­hör­ge­neh­mi­gun­gen des FBI, die bis auf zwei al­le von Kis­sin­ger un­ter­zeich­net wa­ren. Zu die­sen Ab­hö­rern ge­hör­ten ei­ni­ge Re­por­ter, et­wa zehn Mit­glie­der von Kis­sin­gers ei­ge­nem na­tio­na­len Si­cher­heits­stab und die hoch­ran­gi­gen Be­ra­ter des Au­ßen- und des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters. In den Do­ku­men­ten wur­de an­ge­ge­ben, dass die Ab­hör­ge­rä­te an den Haus­te­le­fo­nen der Ziel­per­so­nen in­stal­liert wer­den soll­ten, und sie ent­hiel­ten die Na­men der FBI-Tech­ni­ker, die die Ab­hör­ge­rä­te in­stal­lie­ren soll­ten.

Ich brauch­te ein oder zwei Ta­ge, um ei­ni­ge der In­stal­la­teu­re aus­fin­dig zu ma­chen und mir be­stä­ti­gen zu las­sen, dass die Do­ku­men­te echt wa­ren. Ich wuss­te, dass ich das tun muss­te, be­vor ich den lei­ten­den Re­dak­teu­ren der Ti­mes er­zähl­te, was ich hat­te. Wäh­rend Ni­xon in den Sei­len hing, war Kis­sin­ger der An­sprech­part­ner für al­le au­ßen­po­li­ti­schen Fra­gen, ein­schließ­lich der sich da­mals ab­zeich­nen­den Kri­se im Na­hen Os­ten.

Zu­nächst er­folg­te ein An­ruf bei Kis­sin­ger. Die un­mit­tel­ba­re Re­ak­ti­on war ein völ­li­ges Leug­nen und Wut dar­über, dass man ihn ei­ner sol­chen po­li­zei­staat­li­chen Tak­tik be­zich­tig­te. Dann kam ein nicht un­er­war­te­ter zwei­ter An­ruf, in dem er mit­teil­te, dass er es satt ha­be, stän­dig von der Pres­se run­ter­ge­macht zu wer­den, und dass er zu­rück­tre­ten wol­le. Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter kam Ja­mes Re­ston, der al­len als Scot­ty be­kannt war, der wun­der­ba­re Ko­lum­nist der Ti­mes, der Kis­sin­ger na­he stand, ob­wohl er sich sei­ner Un­zu­läng­lich­kei­ten be­wusst war, in sei­nen haus­schu­h­ähn­li­chen Schu­hen, die er manch­mal im Bü­ro trug, an mei­nen Schreib­tisch und frag­te mich, ob ich wüss­te, dass es Hen­ry mit dem Rück­tritt ernst sei.

Es war un­mög­lich, Scot­ty nicht zu mö­gen, aber er war sich ein­deu­tig nicht si­cher, ob mei­ne Art der Be­richt­er­stat­tung in die Ti­mes ge­hör­te. Da ich Ju­de bin, hat­te ich mich im Win­ter zu­vor frei­wil­lig ge­mel­det, um an Hei­ligabend ei­ne Dop­pel­schicht in den Wa­shing­to­ner Bü­ros zu über­neh­men, was nor­ma­ler­wei­se be­deu­te­te, dass ich nur ei­ne Wet­ter­mel­dung oder et­was ähn­lich Tri­via­les zu schrei­ben hat­te. Nur ich, ein gu­tes Buch und ein Fern­schrei­ber von mor­gens bis spät in die Nacht. Ir­gend­wann kam Scot­ty in schwar­zer Kra­wat­te, mit sei­ner Frau und ei­nem pro­mi­nen­ten Wa­shing­to­ner Di­plo­ma­ten und des­sen Frau im Schlepp­tau, ins Bü­ro. Ich ver­mu­te­te, dass die Schnaps­lä­den in der Stadt ge­schlos­sen wa­ren und Scot­ty, der ein­deu­tig ein we­nig be­schwipst war, dort ei­ne oder zwei Fla­schen aus sei­nem Bü­ro hol­te. Re­ston warf mir einen sehr küh­len Blick zu und sag­te - ich la­che im­mer noch, wenn ich dar­an den­ke - "Hey Hersh, willst du nicht das Ex­klu­siv­in­ter­view mit Je­sus für die zwei­te Aus­ga­be be­kom­men?"

Viel­leicht muss man da­bei ge­we­sen sein, um die Ge­schich­te zu ver­ste­hen, aber Scot­ty war das ein­zig Wah­re. Er war dort, wo er war — als der an­ge­se­hens­te Ko­lum­nist der Ti­mes, — weil die Prä­si­den­ten und ih­re Günst­lin­ge wuss­ten, dass man sich auf ihn ver­las­sen konn­te, wenn es dar­um ging, in ei­ner Kri­se ih­ren Stand­punkt zu ver­tre­ten. Und ich schrieb Ge­schich­ten, ins­be­son­de­re über Kis­sin­gers mög­li­che Ver­bin­dung zu Ni­x­ons Fehl­ver­hal­ten, von de­nen Scot­ty mein­te, dass die Zei­tung sie nicht un­be­dingt ver­öf­fent­li­chen müs­se.

Ich mur­mel­te et­was zu Scot­ty — dar­über, dass es mich nichts an­gin­ge, ob Kis­sin­ger auf­hö­re oder nicht — und fuhr fort, die Ge­schich­te nach New York zu sen­den. Der Re­dak­ti­ons­schluss für die Ti­tel­sei­te war ge­gen 19 Uhr, und kurz vor die­sem Zeit­punkt rief mich Al Haig an. "Sey­mour", sag­te er, was mich auf­hor­chen ließ — die­je­ni­gen, die mich kann­ten, ein­schließ­lich Al, nann­ten mich Sy — und sag­te dann die fol­gen­den Wor­te, die ich nie ver­ges­sen wer­de: "Glau­ben Sie, dass Hen­ry Kis­sin­ger, ein jü­di­scher Flücht­ling aus Deutsch­land, der drei­zehn Mit­glie­der sei­ner Fa­mi­lie an die Na­zis ver­lo­ren hat, Po­li­zei­staats­tak­ti­ken wie das Ab­hö­ren sei­ner ei­ge­nen Mit­ar­bei­ter an­wen­den könn­te? Wenn es auch nur den ge­rings­ten Zwei­fel gibt, sind Sie es sich und Ih­rem Glau­ben und Ih­rer Na­ti­on schul­dig, uns einen Tag Zeit zu ge­ben, um zu be­wei­sen, dass Ih­re Ge­schich­te nicht wahr ist."

Na­tür­lich ver­stand ich, dass Kis­sin­ger Haig an­ge­fleht hat­te, die­se tö­rich­te Ent­schei­dung zu tref­fen, aber er hat­te es ge­tan. Die Ge­schich­te er­schi­en am nächs­ten Mor­gen auf der Ti­tel­sei­te, und Kis­sin­ger über­leb­te, so wie ich es er­war­tet hat­te. Er müss­te schon mit ei­nem Mes­ser in der Hand er­wi­scht wer­den, von dem Blut tropft, und die Lei­che müss­te noch zu­cken, um je­mals Kon­se­quen­zen für sein Han­deln tra­gen zu müs­sen.

Aber er scha­de­te den Kar­rie­ren ei­ni­ger der­je­ni­gen, die in­ner­halb der Bü­ro­kra­tie die Drecks­ar­beit für ihn er­le­dig­ten, wie ich ei­ni­ge Mo­na­te nach mei­nem Wech­sel zur Ti­mes er­fuhr. Es gab einen Skan­dal um einen Vier-Ster­ne-Luft­waf­fen­ge­ne­ral na­mens John La­vel­le, der öf­fent­lich ent­las­sen und de­gra­diert wur­de, nach­dem er zu­ge­ge­ben hat­te, dass er sei­ne Luft­waf­fen­be­sat­zun­gen in Thai­land heim­lich er­mäch­tigt hat­te, Bom­ben­e­in­sät­ze auf nicht ge­neh­mig­te Zie­le in Nord­vi­et­nam durch­zu­füh­ren. La­vel­les Schan­de war öf­fent­lich ge­wor­den, was un­ge­wöhn­lich war, und er war nir­gends zu fin­den.

Zu ei­nem frü­hen Zeit­punkt in der lau­fen­den La­vel­le-Kri­mi­na­li­tät wur­de ich von Otis Pi­ke, ei­nem New Yor­ker De­mo­kra­ten im Aus­schuss für Streit­kräf­te des Re­prä­sen­tan­ten­hau­ses, an­ge­ru­fen. Pi­ke war wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs Bom­ber­pi­lot des Ma­ri­ne Corps im Pa­zi­fik ge­we­sen, und er dräng­te mich, mich mit der Ge­schich­te zu be­fas­sen. Er sag­te mir, er kön­ne mir nicht al­les sa­gen, was er wis­se, aber ich müs­se La­vel­le fin­den und ihn zum Re­den brin­gen.

Ich hat­te in den Jah­ren, in de­nen ich Mit­te der 1960er Jah­re für die As­so­cia­ted Press über das Pen­ta­gon be­rich­te­te, den Wert der Te­le­fon­bü­cher des Pen­ta­gon ken­nen ge­lernt. Ich wuss­te auch, dass La­vel­le, der Jah­re zu­vor als Zwei- oder Drei-Ster­ne-Ge­ne­ral ins Pen­ta­gon ver­setzt wor­den war, zwei­fel­los einen oder zwei sehr klu­ge Air For­ce-Ka­pi­tä­ne als sei­ne per­sön­li­chen Be­ra­ter hat­te. Die Chan­cen stan­den gut, dass ei­ner sei­ner hoch­ran­gi­gen Mit­ar­bei­ter als Ma­jor oder Oberst­leut­nant zu­rück ins Pen­ta­gon ge­gan­gen war.

Und tat­säch­lich fand ich einen, der in ei­nem Vor­ort wohn­te. Ich rief ihn an die­sem Abend zu Hau­se an und sag­te ihm, wer ich war und was ich woll­te: her­aus­fin­den, wo La­vel­le wohn­te und was zum Teu­fel los war. Er gab mir die In­for­ma­tio­nen, die ich brauch­te. Ich ha­be La­vel­le am nächs­ten Tag auf­ge­spürt, als er mit sei­nen bei­den Söh­nen auf ei­nem Golf­platz im länd­li­chen Ma­ry­land spiel­te. Ich ha­be schon im­mer ger­ne Golf ge­spielt, und ich ha­be mit ihm und den Jungs ein paar Schlä­ge ge­macht — Re­por­ter tun al­les, um je­man­den zum Re­den zu brin­gen. La­vel­le, der au­ßer der Tat­sa­che, dass ich ein Fün­fer-Ei­sen schla­gen konn­te, nichts über mich wuss­te, sag­te sei­nen Jungs, sie soll­ten im Au­to war­ten, und be­glei­te­te mich zu ei­ner Bar im Club­haus.

Es war sehr warm, ich er­in­ne­re mich, und wir hat­ten bei­de kal­te Fla­schen Mil­ler High Li­fe. Ich nahm einen Schluck und bat La­vel­le, mir zu sa­gen, was zum Teu­fel pas­siert war. Er war cool, so wie Kampf­pi­lo­ten eben sind, und er­zähl­te mir, dass er et­wa sechs Mo­na­te lang tat­säch­lich Bom­ben­an­grif­fe in­ner­halb des Nor­dens ge­neh­migt hat­te, die nicht zu­läs­sig wa­ren. Er ha­be sei­ne Stell­ver­tre­ter ge­schützt, in­dem er ih­nen nicht ge­sagt ha­be, dass er kei­ne aus­drück­li­che Er­mäch­ti­gung aus Wa­shing­ton da­zu ha­be.

Ich er­in­ne­re mich noch gut an den nächs­ten Wort­wech­sel. Ich sag­te: "Kom­men Sie, Ge­ne­ral, wenn Sie ge­tan hät­ten, was Sie ge­sagt ha­ben, wis­sen wir bei­de, dass Sie vor ein Kriegs­ge­richt ge­stellt wor­den wä­ren."

La­vel­le warf mir einen küh­len Blick zu und sag­te: "Sa­gen Sie mir, wann ist das letz­te Mal ein Vier-Ster­ne-Ge­ne­ral oder Ad­mi­ral der Air For­ce vor ein Kriegs­ge­richt ge­stellt wor­den?"

Ich kann­te die Ant­wort nicht.

Zu die­sem Zeit­punkt be­gann ich den Mann wirk­lich zu mö­gen. Ich spür­te, — ich wuss­te es ein­fach — dass er über Hin­ter­kanä­le den Be­fehl zu den il­le­ga­len Bom­ben­an­grif­fen er­hal­ten hat­te und dass die­se Be­feh­le von Kis­sin­ger und Ni­xon ge­kom­men sein muss­ten. Ich ha­be es ihm ge­sagt, und er hat nichts ge­sagt.

Ich teil­te dem Ge­ne­ral mit, dass ich über sei­ne Er­klä­rung be­rich­ten wür­de, aber dass er die Schuld für das Wei­ße Haus auf sich ge­nom­men hät­te, weil der Prä­si­dent und sein na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter den Krieg ge­gen den Nor­den aus­wei­ten woll­ten, oh­ne dies of­fi­zi­ell zu tun.

Und das ha­be ich ge­tan. Ich ha­be wo­chen­lang in der Ti­mes über das La­vel­le-Durch­ein­an­der ge­schrie­ben. Schließ­lich kam es zu An­hö­run­gen, die von Se­na­tor John Sten­nis, dem kon­ser­va­ti­ven De­mo­kra­ten aus Miss­is­sip­pi, der Vor­sit­zen­der des Se­nats­aus­schus­ses für Streit­kräf­te war, or­ga­ni­siert wur­den. Sten­nis war ein Fal­ke im Vi­et­nam­krieg und ein Fa­na­ti­ker, wenn es um Afro­ame­ri­ka­ner ging, aber er ver­mu­te­te, dass Kis­sin­ger hin­ter der La­vel­le-Schan­de steck­te und war da­für, dass ich tat, was ich konn­te. Er und ich un­ter­hiel­ten uns wei­ter, — ich konn­te ihn je­der­zeit über ei­ne pri­va­te Te­le­fon­lei­tung in sei­nem Bü­ro er­rei­chen — bis Ni­xon aus dem Amt war. Wir wa­ren ein wei­te­res selt­sa­mes Paar.

Ich schrieb ei­ne Rei­he von Ge­schich­ten über La­vel­le, die vol­ler An­deu­tun­gen wa­ren, dass der Ge­ne­ral das, was er tat, für Kis­sin­ger und Ni­xon tat, aber der Ge­ne­ral ent­schied sich, sei­ne Ver­pflich­tung ge­gen­über den Män­nern im Wei­ßen Haus zu er­fül­len. Ein Jahr­zehnt spä­ter, als die Ton­bän­der von Ni­xon und Kis­sin­ger aus dem Wei­ßen Haus an die Öf­fent­lich­keit ge­lang­ten - La­vel­le starb 1979 - gab es ei­ni­ge Ge­sprä­che zwi­schen Ni­xon und Kis­sin­ger über La­vel­les Not­la­ge, als mei­ne ers­ten Ge­schich­ten über ihn in der Ti­mes ver­öf­fent­licht wur­den.

Wie ich in mei­nen Me­moi­ren, die ich vor ei­ni­gen Jah­ren schrieb, fest­stell­te, hat­te Ni­xon ein schlech­tes Ge­wis­sen, weil er den Ge­ne­ral in die Ecke ge­stellt hat­te. "Ich will nicht, dass er zum Sün­den­bock ge­macht wird", sag­te er zu Kis­sin­ger. Ei­ni­ge Ta­ge spä­ter, als es Zei­tungs­be­rich­te über mög­li­che Se­nats­an­hö­run­gen zu La­vel­les Ent­las­sung gab, sag­te Ni­xon er­neut zu Kis­sin­ger: "Ich füh­le mich ein­fach nicht wohl da­bei, ihn in die­se Sa­che hin­ein­zu­drän­gen, und dann be­kommt er einen schlech­ten Ruf." Kis­sin­ger dräng­te ihn, sich aus der Sa­che her­aus­zu­hal­ten. Ni­xon wil­lig­te ein, sag­te aber er­neut, fast kla­gend: "Ich möch­te kei­nen un­schul­di­gen Mann ver­let­zen."

Es war, als ob der Prä­si­dent glaub­te oder glau­ben woll­te, dass er kei­ne Be­fug­nis zum Ein­grei­fen hät­te. In die­sem Mo­ment der Dop­pel­zün­gig­keit be­fand er sich in Kis­sin­gers Hän­den.